"Eine kalte Welt", sagt der Maler. "Wie kamen Ethik und Moral da rein?"
"In urmenschlichen Kleingruppen hat sich kooperatives Verhalten zu Moral entwickelt, zur Kleingruppenmoral."
"Entwickelt? Wie?"
"Die Kleingruppenmoral besitzt einen positiven Selektionswert. Bei der Jagd, bei Kämpfen gegen Konkurrenten, bei der Besetzung und Verteidigung eines Reviers sind Gruppen im Vorteil, die eine straffe, mit Härte durchgesetzte Moral entwickeln können."
'Revier!' Der Maler fährt zusammen. Aber dann denkt er: 'Straffe Kleingruppenmoral? Ist das nicht etwas, das der Festmacher praktiziert?' - "Worum geht es bei der Kleingruppenmoral?!"
"Um gegenseitige Unterstützung beim Jagen. Und im Krieg. Um Teilung und Nutzung von Revier, Beute, Nahrung und Besitz. Um Aufrichtigkeit, Disziplin, Einschränkung von Egoismen und Lenkung von Agressionen nach außen. Es geht um gruppenverträgliche Kontrolle von Emotionen und potentiell gefährlichen Trieben. Um die Regelung der Beziehungen zwischen den Geschlechtern. Und es geht um Aufgabenteilung, etwa bei der Erziehung von Kindern oder der Herstellung von Gebrauchsgegenständen. Die moralischen Forderungen der Kleingruppe wurden später präzisiert, begründet und umgesetzt durch religiöse und weltliche Kräfte. Nur wer die moralischen Forderungen der Gruppe akzeptierte, wurde in ihr aufgenommen, durfte in ihr leben."
"Gruppe, Gruppe! Wo bleibt das Individuum?"
"In unserer Welt empfinden wir ethisches Denken und moralisches Handeln letztlich immer als Ausdruck individueller Eigenarten: des eigenen Gewissens, der eigenen Persönlichkeit."
"Wo bleibt Raum für die Befriedigung eigener Wünsche?"
"Die Befriedigung eigener Wünsche ist nie ein Ziel der Moral gewesen."
"W ... was ist der Unterschied zwischen Ethik und Moral?"
"Es gibt keinen grundsätzlichen Unterschied. Beide Begriffe bezeichnen ein sittliches Empfinden und Verhalten, das von der Mehrheit einer Gruppe als verbindlich angesehen wird. Dabei meint Ethik oft mehr die theoretisch-wissenschaftliche Perspektive, Moral mehr das in der Praxis Verwirklichte. Den Begriffen 'Ethik' und 'Moral' liegen Gesinnungen und Wertschätzungen zugrunde, welche örtlichen Differenzen und zeitlichen Veränderungen unterworfen sind."
"Was ist mit der Moral heute?"
"Die in Hunderttausenden von Jahren evolvierten Grundwerte der steinzeitlichen Kleingruppenmoral formen auch heute noch die Basis menschlichen Verhaltens. Heute aber ist der Selektionswert der Steinzeitmoral nicht mehr wirksam. Heute beruht menschliches Miteinander nicht mehr auf dem persönlichen Sichkennen der Gruppenmitglieder, ihrem unmittelbaren Zusammenleben und ihrem kompromißlosen Vorgehen gegen Fremdes. Heute müssen wir moralische Regeln formulieren und durchsetzen für Milliarden von Menschen, die unterschiedliche Religionen und Wertvorstellungen entwickelt haben und in unterschiedlichen Lebensräumen zu Hause sind. Heute gilt es, bewährte Werte der Steinzeitmoral einzubringen in eine global ausgerichtete Neuzeitmoral. Archaisch-egoistisches Hordenführerdenken darf nicht persistieren. Es muß weiterentwickelt werden zu weltumspannendem kooperativem Planen und Handeln. Das ist die zentrale Aufgabe der Politik und der Religion heute. Hier hilft uns die Natur nicht weiter. Hier können wir uns nur selber helfen."
"Das sollte doch nicht so schwer sein."
"Das ist eine gewaltige Aufgabe. Größer als alles, was die Menschen bisher bewältigt haben."
"Denken Sie an unsere kulturellen, wissenschaftlichen und ökonomischen Errungenschaften!"
"Das war ein langer, verschlungener Weg. Im Kern war das soviel anders nicht als bei der evolutiven Ausreifung neuer Lebensformen."
"Aber das ging doch noch viel langsamer vor sich."
"Ja. Die Menschen haben immer schnell erkannt, was ihnen nützlich ist bei ihrem Streben nach Wachstum, Raum und Macht, was ihre Interessen und Bedürfnisse am besten befriedigt, was ihrer Selbstverwirklichung am förderlichsten ist. Dem sind sie dann gefolgt."
"Nichts von Ethik und Moral in unserem Erbgut?"
"Der Mensch hat nicht nur angeborene Triebe, er hat auch eine angeborene Bereitschaft zum ethischen und moralischen Denken und Handeln."
"Dann müßten sich Instinkte und Triebe auf der einen Seite und Ethik und Moral auf der anderen doch das Gleichgewicht halten können!"
"Über Milliarden von Jahren hat es so etwas wie Ethik und Moral in der Entfaltung des Lebens auf der Erde nicht gegeben. Bei der Entwicklung der Primaten sind Ethik und Moral weit zurückgeblieben hinter den Instinkten und Trieben. Ethik und Moral sind etwas Neues, etwas für das Leben auf der Erde Fremdes - wie der Mensch selbst."
"Aber der Mensch kann nicht überleben ohne Ethik und Moral."
"So ist es. Angesichts der Komplexität seiner Gemeinschaftsstrukturen und seines ins Enorme gesteigerten Veränderungs- und Vernichtungspotentials würde er sonst rasch zugrunde gehen. Die Stärkung der aus Wissen und Einsicht gewollten Moral, das ist die zentrale Aufgabe für die heutige Menschheit. Wir müssen sie lösen. Oder vergehen."
"Und da geht der Wissenschaftler voran?"
"Nein. Ein Wissenschaftler kann zwar möglicherweise die Notwendigkeit moralischen Verhaltens klarer erkennen als manch ein anderer, aber er ist deshalb noch nicht moralischer."
"Ich denke, der Wissenschaftler ist der Ethik schon von berufswegen in besonderem Maße verpflichtet."
"Die Berufsethik verlangt vom Wissenschaftler Exaktheit, Zuverlässigkeit und Aufrichtigkeit bei der forschenden Suche nach der erkennbaren Wahrheit. Da geht er voran."
"Färbt die ständige Beschäftigung mit der Wahrheit nicht ab auf die Person?"
Der Physiker schüttelt nachdenklich den Kopf. Dann sagt er: "Allenfalls wenig. Die größte Enttäuschung in meinem Studentenleben war diese: ich mußte erkennen, daß meine von mir so bewunderten und verehrten Professoren - diese Sucher, Bekenner und Hüter der Wahrheit - in ihrem privaten Leben nicht wahrhaftiger waren als andere Menschen. Damals habe ich mich verzweifelt gefragt: 'Wenn nicht die, wer denn?'" Der Physiker wendet sich dem Maler zu. "Die Weiterentwicklung von Ethik und Moral ist eine Aufgabe für alle Menschen."
"Aber ein Chemiker ..."
"Ein Chemiker, der in seiner wissenschaftlichen Arbeit glasharte Logik praktiziert, unbeirrt die Wahrheit sucht und unnachgiebig auf der Überprüfbarkeit wissenschaftlicher Ergebnisse beharrt, ist dennoch fähig, sich quer durch die Welt zu lügen und sich unbeirrt unüberprüfbaren mystischen oder religiösen Vorstellungen hinzugeben. Hier wird er schizophren."
Ein ganzes Stück wandern Maler und Physiker auf dem langen Weg, der um den See herumführt, ohne ein einziges Wort zu wechseln. Bunte Schmetterlinge flattern taumelnd und kursändernd an ihnen vorüber, aufgeregte Vögel jagen einander, schimpfen und zwitschern, emsige Bienen summen ... Aber der Maler sieht und hört das alles nicht. Seine drängelnde Neugier ist plötzlich versunken in bedrückender Nachdenklichkeit. "Die Expeditionen an die Grenzen Ihrer Vorstellungswelt", sagt er schließlich, "sie werden uns noch lange beschäftigen. Wenn es Ihnen recht ist, würde ich gerne etwas vorweg-nehmen. Es geht um eine für mich sehr wichtige Frage."
"Wie lautet die Frage?"
"Haben wir Menschen einen freien Willen?"
"Nein. Wir Menschen haben keinen freien Willen."
Entrüstet atmet der Zwerg aus. Die Schultern fallen nach unten. Die Wulstlippen pressen aufeinander. "S...so klar", sagt er mit rauher Stimme, "so einfach ist das für Sie?"
"Ja. Aber wir können uns einbilden, ohne bewußtwerdendes Selbstbelügen, daß wir einen freien Willen hätten."
"Das müssen Sie mir schon erläutern!"
"Die meisten Menschen sind davon überzeugt, daß sie einen freien Willen haben. Aber das ist eine Illusion. Was sie wirklich haben, das ist die Möglichkeit der Beeinflussung des sich in ihnen formenden Willens, die Möglichkeit einer Intervention des Geistes. Diese Möglichkeit ist größer im Denken als im Handeln."
Der Maler will das so nicht gelten lassen. "Schauen Sie mal, das macht doch keinen Sinn. Wie paßt denn das zusammen? In unserem täglichen Leben, für unseren normalen Umgang miteinander ist doch letzten Endes entscheidend, daß wir fühlen und somit für uns selbst auch wissen, daß wir etwas aus freiem Willen tun." Er denkt nach. Dann sagt er, leiser: "Manchmal tun wir etwas, das wir eigentlich gar nicht tun wollen. Aber manchmal ist es uns auch möglich, das nicht zu tun - auf Grund neugewonnener Einsichten."
"Das Ausmaß der Möglichkeiten, auf die Willensbildung Einfluß zu nehmen, ist eine Funktion von Angeborenem und Erworbenem: Erziehung, Lernen, Vorbild, sowie der Kraft, die wir aus eigener Einsicht und Verantwortlichkeit mobilisieren können. Was am Ende herauskommt, hängt ab von der unterschiedlichen Qualität und Intensität der beteiligten Faktoren und von dem individuellen Stil der inneren Konfliktbewältigung. Wo aber der Wille stark ist, wo er sich klare Ziele setzt, da kann das Wollen viel bewirken."
"Was ist mit der Vernunft?"
"Was verstehen Sie darunter?"
"Unmittelbare, objektive Umsetzung eigener Sinneseindrücke und ..."
"So etwas gibt es nicht."
"... Einsicht, Besonnenheit und Logik als Grundlage für Denken und Handeln."
"So etwas ist selten."
"Sie unterschätzen die Vernunft!"
"Ich halte nicht so viel von der theoretisierenden Verklärung menschlicher Vernunft - nicht so viel jedenfalls wie mancher Philosoph."
"Warum nicht?"
"Woher nimmt die Vernunft ihre Vernunft?"
"Die Frage gebe ich an Sie zurück."
"So wie ich das sehe, entwächst Vernunft dem Urboden der Schöpfung. Sie war vor dem Menschen da und sie existiert auch außerhalb von ihm. In der realen Menschenwelt ist Vernunft mehr Ziel als Wirklichkeit."
"Die Geschichte der Menschheit spricht dagegen!"
"Die Geschichte der Menschheit ist ein Triumpf der Unvernunft."
"Sie!"
"Mehr noch: Die Geschichte der Menschheit ist eine zutiefst inhumane Geschichte."
"Rrmm!" knurrt der Maler. Nach einer Weile sagt er: "Sie haben von der realen Menschenwelt gesprochen. Gibt es eine andere?"
"Die Welt der Phantasie und Träume. Ich nenne sie die nicht-reale oder die zweite Menschenwelt. Im Traum sind wir den Urquellen unseres Empfindens, unserer Wünsche, Triebe, Ängste und auch unseres Geistes näher als im Wachen. Im Traum gerät manches, das sonst nicht gerät, da ist vieles schöner, bunter und intensiver als in der realen Welt. Aber im Traum kann die Phantasie auch ins Bizarre, Unsinnige und Furchterregende wuchern. In der ersten, der realen Welt führt das Bewußtsein Regie, in der zweiten das Unterbewußtsein."
"Was also ist mit der Willensbildung?"
"Das Resultat eines Willensbildungsprozesses, das wir als freie Entscheidung empfinden können, ergibt sich aus einem Konflikt zwischen verschiedenen in uns wirksamen, oftmals miteinander ringenden Faktoren, von denen jeder sozusagen einen eigenen Willen haben kann."
"Welche Faktoren sind beteiligt?"
"Bei der Willensbildung, der unbewußten oder der absichtsvollen, also bewußt werdenden Entscheidung zwischen Alternativen, unterscheide ich vier Gruppen von Faktoren:
Die erste Gruppe beinhaltet konstitutionelle Faktoren, wie Ererbtes, Gesundheitszustand und Alter, sowie Grundbedürfnisse: Fortpflanzung, Durst, Hunger, Schlaf, geeignete Umwelt und soziale Einbindungen. Hier dominieren Gemeinsamkeiten mit den Tieren.
Die zweite Gruppe umfaßt gefühlsbetonte Faktoren: Stimmungslage, Angst, Wut, Sucht, Trieb. Bei der Sucht nenne ich Sehnsucht, Eifersucht und Geltungssucht. Auch Drangzustände, Neigungen und Teilaspekte der Liebe lassen sich hier einordnen. Zu den Trieben gehören Geschlechtstrieb, Ernährungstrieb, Selbsterhaltungstrieb und Machttrieb. Sie sind ein unmittelbares Erbe aus unserer tierischen Vergangenheit.
In die dritte Gruppe gehören eine Reihe sublimierter Bedürfnisse. Ich nenne hier Wissenwollen, Kultur und religiöse Hingabe.
Die vierte Gruppe umfaßt verstandesbetonte Komponenten, wie Erkenntnis und Einsicht. Und verantwortungsbetonte, wie Ethik und Moral."
"Wie werten Sie die relative Bedeutung dieser vier Gruppen?"
"Je mehr die Situation, auf die wir reagieren, im Bereich der konstitutionellen und gefühlsbetonten Faktoren liegt, desto geringer sind unsere Beeinflussungsmöglichkeiten, je mehr sie im Bereich des Sublimierten, sowie des Verstandes- und Verantwortungsbetonten liegt, desto größer werden sie."
"Warum lassen uns Gefühle so wenig Freiraum?"
"Weil sie sich einfach einstellen. Weil wir sie kaum oder gar nicht beeinflussen können. Sie herrschen mehr über uns, als wir über sie."
Stumm stimmt der Maler zu.
"Insgesamt ist das komplizierter als es auf den ersten Blick erscheinen mag."
"Warum?"
"Weil bei all dem auch noch Vergangenes eine Rolle spielt."
"Wie meinen Sie das?"
"Man kann eine Sucht oder einen Trieb abreagieren und damit eine andere Stimmungslage herbeiführen, die dann ihrerseits die Willensbildung beeinflußt. Wenn ich gerade meinen Geschlechtstrieb befriedigt habe, werden andere willensbildende Kräfte aktiv. Wenn ich gerade ein reiches Mahl verspeist habe, fällt Hunger als willensbildender Faktor aus."
"Wirklich kompliziert!"
"Und das könnte noch komplizierter werden."
"Wodurch?"
"Ich halte es für möglich, daß der Willensbildungsprozeß auch durch uns unbekannt bleibende Faktoren beeinflußt werden kann."
"Wie das!?"
"Ich vermute, daß es Sinnesqualitäten gibt, die nicht die erforderliche Intensität erreichen, um die Grenze zur Bewußtwerdung zu überschreiten, die aber dennoch aus dem Verborgenen heraus unsere Ideen, Vorstellungen und Entscheidungen mitgestalten. Eine brisante, in ihren Konsequenzen schwer abschätzbare Angelegenheit."
Dem Maler ist plötzlich, als sähe der andere durch ihn hindurch, als erkenne der tief in ihm Verborgenes, als dringe er problemlos vor bis in die schwärzesten Höhlen seines schillernden Wesens. 'Verdammt noch mal', denkt er, 'da will ich mich in das Hirn dieses Mannes schleichen, der aber dreht den Spieß um. Der spaziert in mir herum, als sei er dort zu Hause!' Mürrisch sagt er: "Ist das nicht alles ein bißchen weit hergeholt?"
"Nein. Bitte bedenken Sie, auch unser Gedächtnisinhalt verharrt normalerweise im Unterbewußtsein. Nur ein Teil davon kann mit einer gewissen Anstrengung in den Lichtkegel des aktuellen Denkvorgangs gerufen werden und steht dort vorübergehend zur unmittelbaren Verfügung. Der Mensch ist nicht ein bewußt erlebendes Wesen mit einem Unterbewußtsein, wie das allgemein behauptet wird, sondern ein unbewußt erlebendes Wesen, das fähig ist, einen Bruchteil der sich in ihm abspielenden Vorgänge vorübergehend dem Bewußtsein zuzuführen."
"Sie drehen mir zu vieles um. So wird Oben zu Unten!"
"Unser Körper erledigt die weitaus meisten seiner Tätigkeiten, und er löst die weitaus meisten seiner Probleme, ohne uns damit zu behelligen. Erst wenn ein Organ nicht mehr richtig funktioniert, erst wenn eine Infektion nicht mehr abgewehrt werden kann - erst wenn etwas schief geht - erst dann werden uns die Tätigkeiten und Probleme des Körpers bewußt. Der große Zeh beschäftigt uns erst, wenn ein Stein auf ihn fällt, der Magen drängt sich erst in unser Bewußtsein, wenn Schmerzen ihn quälen. Der Körper erkennt und löst jeden Tag viel mehr Probleme als der Verstand. Er empfängt, speichert und verarbeitet viel mehr Informationen, als der Geist sie je zu erfassen und zu interpretieren vermag. Unser Körper ist viel klüger und weiser als der Teil von uns, den wir Gehirn nennen, und der in erster Linie koordiniert und unsere Beziehungen zur Außenwelt regelt."
"Unterschätzen Sie da nicht das Potential unseres Geistes?"
"Der Geist ist nicht in der Lage, auch nur ein einziges Haar auf Ihrem Kopf entstehen und wachsen zu lassen. Die Energieversorgung, die Bereitstellung und Umformung des benötigten Materials, sowie die Aktivierung und Steuerung von Differenzierungs-, Koordinierungs- und Reparaturprozessen, von Alterungs- und Erneuerungsprogrammen - all das übersteigt das Potential unseres Geistes. Aber unser Körper erledigt das spielend."
Grinsend weist der Maler auf die Glatze des Gefährten: "Nicht der Ihrige!"
"Auch der konnte das mal", lächelt der Physiker. "Aber jetzt macht ihm das wohl keinen Spaß mehr."
"Zurück zum freien Willen!", ruft der Maler. "Etabliertes Denken und abendländische Traditionen setzen seit eh und je für moralische Verantwortlichkeit einen freien Willen voraus. Wie könnte jemand schuldig werden, der keinen freien Willen hat?"
"Das fragen Sie mal die Juristen. So manche ihrer Vorstellungen haben keine Entsprechungen in der für uns heute erkennbaren Wirklichkeit."
"Juristen sind Meister im vorurteilsfreien logischen Denken und Folgern! Sie haben ein in sich nahezu lückenloses Gebäude von Ideen, Anschauungen und Argumenten aufgebaut. Die Rechtswissenschaft ist eine in sich vorbildlich durchdachte und geordnete Normwissenschaft!"
"Gegenstand der Rechtswissenschaft ist der Mensch und dessen Welt. Über beides wissen Juristen zu wenig. Sie haben ein in sich selbst ruhendes gedankliches Ordnungsgefüge geschaffen, in dem sie vernunftgemäße Einsichten und Verhaltensweisen der Menschen voraussetzen und gesetzlich regeln - ein Ordnungsgefüge, das in sich logisch ist, das aber keine ausreichende Basis hat in den biologischen Wirklichkeiten menschlichen Werdens, Seins und Verhaltens."
"Beispiele! Begründungen!!"
"Juristen behaupten, daß Menschen einen freien Willen haben, daß sie ihre Entscheidungen bewußt abwägen können, und daß sie diese zu rechtfertigen vermögen. Beweise sind sie schuldig geblieben. Juristen bauen auf Gleichheit der Menschen vor dem Recht. Das widerspricht täglicher Erfahrung und biologischen Erkenntnissen. Die Menschen sind nicht gleich, auch nicht in ihrer Fähigkeit, gesetzestreu oder verantwortlich zu handeln. Auch ..."
"Sie legen sich ihre Argumente nach Bedarf zurecht. Sie ..."
"Auch bei ihrem Ringen um Recht vor dem Richter sind die Menschen nicht gleich. Da haben sie oft sehr unterschiedliche Chancen. Das ist ein eher dunkles Kapitel der Jurisprudenz. Juristen gründen ihre Vorstellungen auf eine Konzeption vom Ich, die längst als Trugbild entlarvt worden ist. Und wie halten sie es mit der Gewalt? Goethes bittere Worte gelten auch heute noch: 'Man hat Gewalt, so hat man Recht.'"
"Wenn der Mensch in allem was er denkt und tut seiner Biologie widerstandslos unterworfen wäre, dann gäbe es ..."
"Wer behauptet das?! Ein normaler Mensch ist ebensowenig ein widerstandsloser Untergebener wie ein absoluter Herrscher über sein Denken, Tun und Entscheiden. Die Wahrheit liegt dazwischen."
Mürrisch wirft der Maler ein Ende seines Schals über die Schulter. "Wer Recht sprechen will muß Anforderungen an den Menschen formulieren und praktizieren, die sich am Durchschnitt messen. Ohne Generalisieren kommt kein Gesetz aus. Das Grundprinzip der Rechtsprechung ist das Messen an der Norm. Insofern orientiert sich jedes Schuldurteil letztlich am Vergleich."
"Ja. Aber ..."
"Wir brauchen die Strafe!", schreit der Maler. "Strafe und Strafvollzug haben die gesamte Entwicklung der Menschheit geformt und geprägt. Sie sind unverzichtbar! Sie sind die wichtigsten erzieherischen Mittel unserer Gesellschaft!"
Abwehrend hebt der Physiker die Hand. "Man argumentiert: 'Wir messen am Durchschnitt'. Dazu sage ich: Aber wir kennen seine Maße nicht. Man impliziert: 'Wir sind immer so verfahren, also ist das richtig.' Und 'du sollst, also kannst du'. Dazu sage ich: Das sind unakzeptable Begründungen und unrichtige Schlußfolgerungen. Wo bleibt da die Logik der Rechtshüter?"
Der Maler wiegt den Kopf. 'Logik', denkt er, 'sie strebt in Höhen, aber sie wurzelt im Tal. Sie verachtet Gefühl, aber sie fußt auf ihm.'
"Hier ist noch viel Forschung und Aufklärung zu leisten", insistiert der Physiker. "Noch immer sind wir weit davon entfernt, die Norm verbindlich definieren und das von der Norm abweichende Verhalten eines Einzelnen hinreichend erklären und bewerten zu können. Wir ..."
"Das ist doch ..."
"Wir sind noch immer nicht in der Lage, die Ursachen und Abläufe des Schuldigwerdens in ausreichendem Maße zu analysieren. Daher dürfen wir auch nicht die zur Zeit geltenden Vorstellungen von Schuld und Sühne als etwas Unumstößliches darstellen."
"Das ist doch alles graue Theorie. Wie sollen Ordnung und Gesetz ohne das bisherige Konzept der Strafe zurechtkommen?"
"Mit einer anderen, einer aufrichtigeren Begründungskonzeption."
"Wie soll die lauten?"
"Der Mensch ist geworden und lebt in sozialen Bindungen. Die Gemeinschaft, zu der er gehört, ist die formende und schützende Kraft seiner humanen Existenz. Die Gemeinschaft kann nur funktionieren, wenn sie sich Gesetze gibt. Mit ihren Gesetzen, die dem Durchschnitt zumutbar sein müssen, sichert und fördert die Gemeinschaft ihren Bestand und den des Einzelnen. Aus diesem Grunde darf sie die Einhaltung ihrer Gesetze einfordern, wenn nötig erzwingen."
"Bitte kommen Sie zurück zu meiner Frage!"
"Sie haben gefragt, ob wir einen freien Willen haben."
Der Maler nickt.
"Damit fragen Sie doch, ob wir frei, also nach Belieben, in jeder Situation unseres Lebens entscheiden können, dieses oder jenes zu tun oder zu lassen?"
"Ja."
"Das können wir nicht."
"Das sehe ich anders!"
"Ein Beispiel: Wir beschließen, um den See zu wandern. Es ist heiß, die Sonne brennt. Wir schwitzen. Nach einer Stunde sehen wir Männer, die Bier trinken. Der Wunsch flammt auf, etwas zu trinken. Aber wir hatten ja beschlossen, um den See zu gehen. So wandern wir weiter. Immer weiter. Das Gespräch verstummt. Die Kehlen werden trocken. Schließlich haben wir nur noch eins im Sinn: Trinken! Wir sehnen die nächste Gastwirtschaft herbei. Als die endlich am Wegrand auftaucht, gehen wir rasch hinein und bestellen zwei Bier. - Freier Wille? Von wegen! Unser Körper schreit nach Flüssigkeit. Physiologische Meßstellen haben Alarm geschlagen. Ihre Botschaft ist bis in die zentrale Schaltstelle, das Gehirn, gedrungen. Dort entsteht daraufhin der Befehl: Trinken! Wo ist da freier Wille?"
Mit gesenktem Kopf sieht der Maler auf seine Schuhe. Er denkt an seine eigenen Probleme. Daran, wie wenig frei er wirklich ist, wenn der laue Nachtwind seine Haut streichelt. Wenn die verdammten Triebe aus ihren dunklen Höhlen kriechen, ihren Weg nach oben suchen bis in sein Hirn. Wenn sie dort ihre Macht entfalten. Wenn sie solange herumrumoren, bis er das tut, was sie von ihm verlangen ... bis er Dinge tut, die er eigentlich gar nicht tun wollte.
Nach längerem Schweigen sagt der Maler: "Aber schauen Sie mal, wie ist denn das mit den Asketen?" Er klammert sich jetzt an die Hoffnung, anhand des Verhaltens dieser besonders willensstarken Menschen den Nachweis führen zu können, daß es eben doch einen freien Willen gibt. "Asketen haben einen sehr starken Willen, und den vervollkommnen sie durch fortwährendes Üben. Sie setzen ihren enormen Willen ein, um materielle Wünsche und Begehrlichkeiten zu kontrollieren und spirituelle Ziele zu erreichen. Sie dursten, hungern und üben sexuelle Enthaltsamkeit. Es gibt indische Jainisten, die sich zu Tode hungern, um Heilige zu werden. Hier haben wir doch ein Beispiel dafür, daß tierisch Triebhaftes durch menschlich Geistiges vollkommen beherrscht werden kann. Bei den Asketen gibt es einen freien Willen! Freilich, bei ihnen feiert der freie Wille Triumphe!!"
"So mancher Asket flieht vor seinen Begehrlichkeiten. Die aber fliehen mit ihm. Oft lasten sie auf ihm wie schwere Steine."
"Viele Asketen sind sehr stark. Sie haben einen enorm starken Drang."
"Ja. Aus den Tiefen ihrer Individualität erwächst ihnen ein enorm starker Drang, das zu tun, was sie tun. Und wenn dieser Drang so stark ist, daß sie das, was er von ihnen fordert, auch tatsächlich zu tun vermögen, selbst gegen mächtige Süchte und Triebe, dann können sie auch gar nicht anders. Dann müssen sie das tun!" Der Wissenschaftler sieht in die unsicher umhersuchenden Augen des Künstlers. "So gesehen haben also auch Asketen keinen freien Willen."
Der Maler kneift die Lippen aufeinander und verzieht das gefurchte Gesicht. Schlimm sieht das aus, wie er da so drein- schaut mit einer Mischung aus Empörung, Fassungslosigkeit und Hilflosigkeit. Und dann wird ihm plötzlich klar, was ihn an diesem Gespräch am meisten schmerzt: Die Tatsache, daß er früher bei seinen eigenen Überlegungen im Grunde zu ganz ähnlichen Schlußfolgerungen gekommen war. Das aber hatte er niemals wirklich wahrhaben wollen. Das hatte er immer wieder verdrängt. "Aus Ihrer Sicht", sagt er nun mit vereister Stimme, "hat dann also nur Gott einen freien Willen."
"Nein."
"Wieso nein?"
"Auch Gott hat keinen freien Willen."
"Fffftt!" macht der Maler und verbraucht dabei alle Luft, die er in den Lungen hat. In Abwehr hebt er die Hand. Der Mund klappt auf. Hastig schnappt er nach neuer Luft. Wie besessen schüttelt der Kopf. "D...das ist zuviel!", schreit der Zwerg. "Das können Sie nicht ernsthaft behaupten wollen!!"
"Ich kann."
Mit weit aufgerissenen Augen, in denen das Schwarz scharf kontrastiert gegen glitzerndes Weiß, starrt der Maler den Physiker an: "Welchen Gott meinen Sie?"
"Meinen Gott."
"Was ist das für ein Gott?"
"Das werde ich Ihnen noch erläutern." Der Physiker sagt langsam, ruhig und eindringlich: "Im Universum kann nichts existieren außerhalb der Naturgesetze. Gott ist entweder Teil der Naturgesetze oder, wie ich das sehe, identisch mit diesen."
"Gesetze, Gesetze! Wo bleibt die Freiheit??"
"Freiheit setzt Gesetze voraus."
"Gesetze hemmen auch!"
"Derartiges Hemmen hat unsere Zivilisation ermöglicht."
Wütend stampft der Maler mit dem Fuß auf den Boden.
"Wenn also Gott ein Teil der Naturgesetze ist", fährt der Physiker unbeirrt fort, "so kann er nur in ihrem Rahmen existieren. Nur innerhalb ihres Rahmens ist er frei. Wenn Gott und die Naturgesetze aber ein und dasselbe sind, dann hat Gott nur die Freiheit, seine eigenen Gesetze zu beachten, sich also selber treu zu bleiben. Einen wirklich freien Willen hätte er auch dann nicht."
"Gott ..."
"Gott kann nichts wollen - und wenn er es denn wollte, nichts tun - was den Naturgesetzen zuwiderläuft. Er kann nicht verhindern, daß ein Stein, der von der Klippe rollt, zu Boden stürzt, daß ein Mensch, der versucht, über Wasser zu schreiten, darin versinkt. Er kann nicht bewirken, daß die Erde auf ihrer Umlaufbahn um die Sonne plötzlich stehenbleibt. Gott existiert in der Ordnung. Gott ist Ordnung. Jede Ordnung aber erfordert Gesetze. Nur bei Einhaltung der Gesetze, unter denen eine Ordnung geworden und gereift ist, kann sich diese Ordnung erhalten und entfalten. Die universumweit wirksamen Energie-Materie-Konstellationen ahnden jeden Verstoß gegen ihre Ordnungsprinzipien. Sie dulden keinen freien Willen!"
Abermals stürzt der Maler in eine andere Stimmungslage. Seine Emotionen sind ebenso mächtig und intensiv, wie sie gebrechlich sind und instabil. Deprimiert schnarrt er: "Wenn letztlich alles in den Naturgesetzen vorgegeben ist, so reduziert uns das doch zu Automaten, zu Maschinen."
"Im Prinzip ist das so. Aber im Detail gibt es Freiräume - innerhalb der von den Naturgesetzen bestimmten Grenzen. Das gilt besonders für mit Einsicht und Besonnenheit begabte Menschen. Wir haben erhebliche Möglichkeiten, den Prozeß der Willensbildung zu beeinflussen: durch Erkennen, Lernen und Vorbild; durch Ausübung von Verantwortlichkeit gegenüber Mitmensch und Natur. Aber Art und Ausmaß der Fähigkeiten, die erforderlich sind, um diese Möglichkeiten wirksam werden zu lassen, hängen auch von Zwängen ab, die der Mensch selbst nicht zu beeinflussen vermag."
Der Maler überlegt eine Weile. Dann ruft er: "Wir brauchen einen Halt!" Er nickt. "Wir brauchen eine heile Welt - wenigstens in unserer Phantasie. Wir brauchen Utopien, um leben zu können!"
"Ganz falsch! Der Mensch muß versuchen, ohne Utopien auszukommen. Ich wünsche mir eine Humanität, die frei ist von Gefälligkeitsverzerrungen. Ich wünsche mir einen Menschen, der fähig ist, Unvermeidbares zu akzeptieren und auszuhalten, statt es zu verdrängen - einen Menschen, der aus unbeschönigtem Leid die Kraft zu gewinnen vermag, die erforderlich ist, um sich neu einzurichten in dieser Welt."
"Viele Menschen werden an einer Welt zugrundegehen, die ihnen auch noch ihre Phantasien und Utopien raubt."
"Wegschauen bringt auf die Dauer nichts. Der Wegschauer muß zum Hinseher werden. Es gilt, Sinnleere auszufüllen durch Suchen nach der erkennbaren Wahrheit, nach der Wirklichkeit. Wir müssen danach streben, an der Realität zu wachsen und zu reifen. So, nur so, können wir unserem Leben einen neuen Sinn geben."
"Reifen, reifen! Was bringt das?"
"Es gebiert Verantwortlichkeit."
"Zum Teufel mit Ihrer Verantwortlichkeit!"
"Wir müssen erkennen und akzeptieren, daß wir unentrinnbar und in der vielfältigsten Weise eingebunden sind in eine große und großartige Gemeinschaft."
"Was für eine Gemeinschaft?"
"Die Gemeinschaft von allem Lebenden und allem Toten. Woimmer wir uns gegen diese Gemeinschaft wenden, verursachen wir Schaden. Das Bemühen, solchen Schaden zu vermeiden, das ist die Wurzel der Verantwortlichkeit. Hier wird Verantwortlichkeit zum Gewissen-Haben."
"Gewissen-Haben!" schreit der Maler außer sich, "Gewissen-Haben! Was ist das schon!!"
"Das ist der Gegenpart von Gewissen-Sein."
"Verflucht nochmal! Was ist Gewissen-Sein?"
"Gott ist Gewissen-Sein. Der Mensch soll ein Gewissen haben. Aber auch so mancher Mensch beansprucht für sich Gewissen-Sein. Das ist Anmassung. Ja, es ist Gotteslästerung!"
Der Maler wankt. Ihm ist übel. Er ringt nach Luft. Es dauert eine Weile bis er wieder sprechen kann. Dann sagt er mit schnarrend zitternder Stimme: "I...ist das alles? Alles, was Sie über den freien Willen sagen können?" Der Zwerg atmet schwer. Dann beißt er die fast blutleeren Lippen aufeinander. Er reißt den Hemdkragen auf, daß ein weißer Knopf davonschwirrt. "Was", ruft er verzweifelt, "was, in Gottes Namen, können wir denn tun? Wir, die wir mit einem einigermaßen normalen Willen ausgestattet sind, oder doch glauben, es zu sein?"
Der Maler findet keinen Mittelweg - zwischen Ruhe nicht und Explosion, zwischen Gutem nicht und Bösem. Von einem Extrem stürzt er ins andere. Ein Verweilen in der Mitte, im Gleichgewicht, ist ihm nur selten vergönnt. Sein Wesen wächst aus Zerrissenem. Es wandelt auf dem gewundenen Pfad des Widersprüchlichen. Er haßt den Teufel, aber ohne Teufel kann er nicht sein. Er sucht einen Gott, aber keinem Gott kann er dienen. Er will alles wissen, aber er kann nicht alles Wißbare ertragen. Er fordert die Angst, aber er fürchtet sich auch vor ihr.
Aus den Augenwinkeln sieht der Physiker, wie es wetterleuchtet in den harten Zügen, wie sein kleiner Gefährte mit sich ringt. So sucht er nach einer hilfreichen Antwort: "Der Dualismus von Wollen und Müssen ist nicht so scharf ausgeprägt, wie das auf den ersten Blick den Anschein haben mag. Die Schwarz-Weiß-Manier, in der wir diese Dinge sehen, ist ein weiteres Beispiel für unser Zwangsdenken in Gegensätzen."
In freundschaftlichem Mitgefühl legt der Wissenschaftler behutsam die Hand auf den Arm des Künstlers. "Der Konflikt zwischen Wille und Trieb, zwischen Tugend und Laster, zwischen Gut und Böse, er ist so alt wie die Menschheit, und er wird weiterwirken, bis der letzte Mensch verwelkt ist. Immerfort streben die meisten Menschen danach, gut zu sein. Immerfort sehnen sie sich nach Anerkennung und hoffen auf Liebe. Immerfort aber auch plagen und versuchen sie Laster, Süchte und Triebe, die all dem entgegenwirken. Das Ziel, gut zu sein, ist in unserer Kultur vielfach verankert, ja nahezu allgegenwärtig. Aus diesem Ziel erwachsen Hoffnung, Mut und Kraft. Mit ihrer Hilfe können wir versuchen, die Auswirkungen des Bösen in uns zu mildern und zu lenken."
"Was ist das, das Gute?" flüstert der Maler "Was das Böse? Das ist ..." Der Maler beißt sich auf die Unterlippe. Er senkt den Kopf. Stumm betrachtet er seine Schuhe. Nach einer Weile fragt er: "Wenn es stimmt, daß der Mensch nicht von Natur aus böse ist, wie kam das Böse in die Welt?"
"In der unverfälschten irdischen Natur gibt es weder Gut noch Böse. Diese Begriffe kamen in die Welt mit einem der Natur Entwachsenden: dem Menschen. Gut und Böse sind seine Projektionen."
"Was bringt die Projektionen hervor?"
"Menschsein funktioniert nur mit der Natur, nur im Rahmen ihrer Gesetze. Wo immer ..."
"Sie haben meine Frage nicht beantwortet!"
"Ich bin noch dabei. Wo immer aber Natur ungehemmt in menschliches Miteinander drängt, wo immer irdische Ordnung unzensiert im Menschen wirksam wird, da entstehen Probleme. Gut und Böse sind Vorstellungen, mit denen der Mensch versucht, diese Probleme in den Griff zu bekommen."
"Ist das Ihre Antwort auf meine Frage?"
"Gemach! Die Menschen haben erfahren, daß ihre komplizierten Sozialstrukturen und Gesellschaftsformen nur funktionieren können, wenn ihrem ursprünglichen, natürlichen Verhalten Fesseln angelegt werden."
"Ich mag Fesseln nicht!"
"Ohne Fesseln keine Menschenwelt!"
"Menschenwelt! Was heißt das in diesem Zusammenhang?"
"Versuchen Sie mal, einem Regenwurm das Einmaleins beizubringen, oder einer Katze das Schachspiel."
"Zum Teufel auch! Was wollen Sie damit sagen?"
"Das Einmaleins liegt außerhalb der Regenwurmwelt, das Schachspiel außerhalb der Katzenwelt. Und so gibt es Dinge, die außerhalb - oder innerhalb - der Menschenwelt liegen."
"Weiter!"
"Unser Denken und Empfinden in Kategorien von Gut und Böse ist Konsequenz und Ausdruck unserer Angst vor den eigenen Urinstinkten. Koexistenz ist niemals konfliktfrei - weder innerhalb von Arten, noch in zwischenartlichen Beziehungen. Es ist die Natur selbst, die diese Konflikte erzwingt."
"Was hat das mit unserem Thema zu tun?"
"Das Erahnen oder Erleben des von der Natur ausgehenden Konfliktzwangs und das Wissen darum, daß wir etwas gegen ausufernde Konflikte tun müssen, weil wir sonst nicht überleben können, das ist der Boden, auf dem die Projektionen von Gut und Böse entstanden und gewachsen sind. Die Ordnung irdischen Lebens sieht ursprünglich keine Ethik vor. Hier läßt die Evolution den Ausbrechenden im Regen stehen."
"Wie kommt er wieder ins Trockene?"
"Durch Selbsthilfe. Mit zunehmender Komplexität und Größe der Sozialgefüge gewinnt der Konflikt zwischen Gut-Sein-Wollen und Böse-Sein-Müssen an Gewicht. Und damit auch die Überlegungen darüber, wie das Gute zu fördern sei, was die Begriffe 'Gut' und 'Böse' beinhalten und wie deren Inhalte in Verhalten umgesetzt werden können." Langsam wischt die Hand über den kahlen Schädel. "Voraussetzung für erfolgreiche Selbsthilfe ist die Fähigkeit, Gutes und Böses zu werten."
"Was ist gut? Was böse?"
"Der Mensch hält das für gut, was für ihn angenehm ist, zuträglich und nützlich, was sich bewährt hat, was gruppenverträglich seine Bedürfnisse befriedigt und was ein geordnetes Zusammenleben von Menschen fördert. Aus der Sicht seiner Nützlichkeit wird der Begriff 'gut' hier wertgleich mit Ehrlichkeit, Gerechtigeit, Fleiß, Selbstbeschränkung, Hilfsbereitschaft und anderen sozialen Tugenden."
Der Physiker überlegt einen Augenblick. Dann fährt er fort: "Aber all das wird subjektiv empfunden. Daher kann manches von diesem Guten auch Böses sein."
"Wie?"
"Wenn jemand etwas, das er subjektiv als gut erlebt, einsetzt, um anderen Menschen zu schaden, etwa im Krieg. Oder wenn Verbrecherbanden mit gruppenintern als gut bewerteten Verhaltensweisen - Verbrüderung nach innen, aber Lügen, Betrügen und Morden nach außen - anderen Böses zufügen."
"Was verstehen Sie unter Bösem?"
"Sittlich Verwerfliches. Verstöße gegen eigene ethische Gebote. Gegen Ordnung und Interesse der Gruppe gerichtetes Wollen und Wirken."
"Was treibt den Menschen zum Bösen?"
"Archaische Instinkte, Aggressionen, Egoismen, Triebe. Wo-immer Urverhalten ungedämpft an die Oberfläche bricht, da kann das Böse gedeihen."
"Aber es gibt auch viel Belehren und Anleiten."
"Ja. In unserer Gesellschaft wird viel gegen Böses gesagt und getan. Aber am Ende ist das Böse leider oft erfolgreicher als das Gute."
"Zum Beispiel?"
"Beim Sichdurchsetzen im Konkurrenzkampf, beim Besitzerwerben, beim ..."
"Dann sind Gut und Böse also relative Begriffe."
Der Physiker nickt. "Weder Gut noch Böse haben allgemeinverbindliche Wertinhalte. Was für einen Menschen oder eine Gruppe gut sein mag, schadet möglicherweise einem anderen oder einer anderen Gruppe, ist für jene also böse. Gut und Böse sind Extrapolationen einer bestimmten Art menschlichen Empfindens, Denkens und Wollens. Sie sind etwas Subjektives, Situationsgebundenes. Und sie sind, wie gesagt, oft etwas anderes innerhalb einer sozialen Gemeinschaft als gegenüber Gruppenfremden."
"Gut zu sein und rein ist ein Kerngebot der Bibel."
"Im biblischen Sinne gut und rein zu sein bedarf der besonderen Mentalität des unreflektiert Gläubigen. Die Naivität bedingungslosen Gottvertrauens beschwört Gefahren."
Der Maler will etwas sagen. Aber seine noch unausgesprochenen Worte versinken im Nebel zunehmender Hoffnungslosigkeit.
Schließlich sagt der Physiker: "Im Kampf gegen Böses und bei der Gestaltung unserer Zukunft können wir nur dann Erfolg haben, wenn wir das Erkennbare suchen, wenn wir uns dem Gefundenen öffnen, und wenn wir bereit sind, daraus Lehren zu ziehen."